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Vom "poor image" zu den "poor images"

Helena Schmidt
Dissertationsstipendiatin an der Akademie der bildenden Künste Wien | Abschluss-Stipendium des Doktoratszentrums 2020|21

Abstract

Das Dissertationsprojekt Vom "poor image" zu den "poor images" fokussiert auf im Internet zirkulierende, digitale Bilder der postdigitalen Gegenwart in Hinblick auf deren Gebrauch, Reflexion und Potenzial in der schulischen Kunstvermittlung. Dabei gehe ich vom Begriff des "poor image" aus, der auf die Künstlerin Hito Steyerl zurückgeht: Sie beschreibt damit eine seit dem Aufkommen mobiler internetfähiger Devices bestehende Transformation des qualitativ hochwertigen, reichen Bildes zur schlecht aufgelösten, komprimierten digitalen Bildkopie, die im Netz zirkuliert, bearbeitet und vervielfältigt wird (Steyerl 2009). Ausgehend von Steyerls Theorie um das "poor image" und bildliche Transformationen in der postdigitalen Gegenwart fokussiere ich das Spannungsfeld Bild und Bildung.

Seit Steyerls Begriffsdefinition im Jahr 2009 gibt es noch keine wissenschaftliche Aufarbeitung der "poor images". Mit der Untersuchung des Bildphänomens, das stellvertretend auch für das exponentielle Wachstum der Internetinhalte mit seinen nach Schütze "virulenten Bilderkomplexen" (Schütze 2018, 87) steht, schließt mein Dissertationsvorhaben diese Lücke. Während viele wissenschaftliche Disziplinen sich aktuell mit gegenwärtiger Bildlichkeit und den Auswirkungen digitaler Transformationen seit dem Internet befassen, ist deren Einfluss auf die schulische Kunstvermittlung noch kaum beforscht. Gerade in einem aktuellen, kritischen Kunstunterricht mit Jugendlichen, die (häufig im Gegensatz zu ihren Lehrpersonen) mit dem Internet aufgewachsen sind, fließen die Einflüsse aus neuen Technologien, Bildpolitik, Medienkultur, Kunst und Kommunikationsstrategien zusammen und müssen zur Erlangung einer kritischen, digitalen Bildkompetenz (digital visual literacy) vermittelt und kritisch reflektiert werden. Das Dissertationsprojekt beantwortet die Frage, warum es von Bedeutung ist, den 2009 geprägten Begriff des "poor image" in die Diskussion um die postdigitale Gegenwart und insbesondere deren kritische Kunstvermittlung einzubringen. Ziel der Dissertation ist eine interdisziplinäre, theoretische Aufarbeitung des Phänomens "poor image" sowohl aus kunstwissenschaftlicher wie auch aus bildungswissenschaftlicher Perspektive in Hinblick auf eine zeitgenössische und zukünftige kritische Vermittlung, Pädagogik und Didaktik der Digitalität.

Heutzutage existieren mehr Bilder im Internet als je zuvor — allein auf der Social-Media Plattform Instagram wurden bisher über vierzig Milliarden Fotos geteilt, wobei sich die Nutzung der sozialmedialen App zwischen Juni 2016 und 2018 verdoppelt hat. Das (digitale) Bild bestimmt die gegenwärtige Kultur, Kommunikation und die Kunst wie kein anderes Phänomen — es handelt sich um die "geschäftsführende kulturelle Einheit der Gegenwart" (Schütze 2019). Gleichzeitig sind die kulturellen Bedingungen unserer Realität an diesen Bildern abzulesen. Das Bild kann seit dem Web 2.0 durch menschliche und nicht-menschliche Akteur*innen beliebig oft kopiert und verändert werden und nimmt in seinem Proliferationsprozess im Netz verschiedenste Formen an. Steyerl beschreibt das "poor image" als digitale Bildkopie in Bewegung, das zwar konstant an Auflösung, Bildinformationen, Paratext und Brillanz verliert, gleichzeitig aber durch seine massive Verbreitung an Sichtbarkeit, Einfluss und Aufmerksamkeit gewinnt. Somit geschieht eine Wertverschiebung in der Qualität und Beurteilung von Bildern seit dem ubiquitären Gebrauch des Internets und der damit verbundenen breiten Verfügbarkeit sowie Verhandlung von Bildmedien (beispielsweise in Form von Memes, Clips, GIFs, Collagen, etc.). Diese Bildpraxen stehen in engem Zusammenhang mit Online-Machtverhältnissen und einflussreichen visuellen Regimen (Rogoff 1998, Rose 2016) der Gegenwart. In diesem Zusammenhang gilt es eine Brücke zu den Jugendlichen und ihren (visuellen) Lebenswelten zu schlagen, die das Handeln mit digitalen Bildern und "poor images" häufig selbstverständlich einschließen (posten, liken, teilen, bearbeiten etc.). Dabei werden visuelle Botschaften verbreitet, ohne das Bild als solches und die mitgereichten Bedeutungen unbedingt zu reflektieren. In diesem Sinn ist es gerade Aufgabe der Bildung, hier Bewusstsein zu schaffen und das Potenzial dieser Bilder im Unterricht zu nutzen. Für den schulischen Kunstunterricht stellen das Internet und damit neu aufgekommene Bildpraxen und -formen eine enorme Herausforderung, aber auch großes Potenzial dar: "poor images" sind einerseits künstlerisches Material und andererseits selbst Gegenstand kritischer Reflexion.

Mithilfe aktueller Theoriepositionen aus Bild- und Medienwissenschaft, Kunst- und Kulturwissenschaft, Philosophie, Kunstvermittlung und Bildungswissenschaft nähert sich die Arbeit dem "poor image" multiperspektivisch an und analysiert für die Untersuchung relevante Begriffe sowie Diskurse in den Feldern Bild, Bildhandeln, Digitalität, und Gegenwart. Anschließend situiere ich den Begriff im wissenschaftlichen Diskurs der Kunstvermittlung und -didaktik und arbeite seine kunstpädagogischen Potenziale heraus. Der dritte Teil der Arbeit besteht aus einer teilnehmenden Beobachtung im gymnasialen Kunstunterricht. Dafür wurde in einem Vermittlungs- und Forschungssetting gemeinsam mit Jugendlichen Material erhoben, um den Untersuchungszusammenhang im Praxistest zu stärken (Gymnasium Hofwil, Bern). In einem 6-tägigen Workshop arbeiteten Schüler*innen aktiv zum und mit dem "poor image". Die Ergebnisse liegen in Form von Audio-, Foto- und Videodokumenten, Projektnotizen wie auch in individuellen künstlerischen Arbeiten vor. Das Projekt wird mit einem induktiv erschlossenen Methodenmix (fokussierte Ethnographie, kunsthistorische Analyseverfahren, kritische Kunstvermittlung, künstlerische Forschung) ausgewertet und fließt schlussendlich in die theoretische Argumentation zurück.