Philosophie der Flucht
Johannes Siegmund
Dissertationsstipendiat an der Akademie der bildenden Künste Wien | Abschluss-Stipendium des Doktoratszentrums 2019|20
Abstract
Fluchtbewegungen sind politische und soziale Bewegungen. Die Interpretation dieser Bewegungen ist allerdings äußerst umstritten. In meiner Dissertation erarbeite ich einen politischen Begriff von Flucht und frage nach den widerständigen Politiken der Flüchtenden.
Ich beginne in der Neuzeit mit der Unterscheidung zwischen Vagabund_innen und Religionsflüchtlingen. In den Begriffen spiegelt sich bereits die Grenzziehung zwischen wirtschaftlichen Migrant_innen und politischen Flüchtlingen, die zentral für die Regierung von Fluchtbewegungen geworden ist. Mit Hilfe feministischer und postkolonial informierter Arbeiter_innengeschichte stelle ich die Unterscheidung von Migrant_in und Flüchtling in Frage.
Im Anschluss fasse ich den modernen Begriff des politischen Flüchtlings anhand von Hannah Arendts Paradigma des staatenlosen Flüchtlings im Lager, der durch Rassismus, Bürokratie und Humanitarismus ausgeschlossen wird. Hintergrund für diese Figur sind der Zerfall der Kolonialreiche, die Gründung von Nationalstaaten und die Genozide und Vertreibungen von Minderheiten, die damit einhergingen. Ich aktualisiere Arendts zentrale Einsichten und erweitere dann ihre enge Fassung des Fluchtbegriffs. Ausgehend von Theorien der fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation fasse ich auch Menschen, die innerhalb von Grenzen fliehen, Vertriebene, die aufgrund von Enteignung, Not und Armut fliehen und Umwelt- und Klimaflüchtlinge unter einem Begriff der Flüchtenden zusammen.
Ausgehend von diesem erweiterten Begriff der Flüchtenden stelle ich verschiedene Politiken der Flüchtenden als Politiken unter widrigen Bedingungen, Politiken trotz allem, dar. Transnationale, radikal demokratische Protestpolitiken mit öffentlichen Forderungen nach Rechten und Aufenthaltstiteln werden ebenso gefasst, wie mikropolitische Politiken, die sich eher unsichtbar, im Sozialen und Privaten, abspielen. Daraus ergibt sich die Frage nach der Möglichkeit transnationaler, demokratischer Politiken. Das Fazit rückt die Figur des fliehenden Kindes in den Mittelpunkt. Ausgehend von den unbegleiteten flüchtenden Kindern in Zentralamerika und dem Resignation Syndrom in Schweden, werden die Flüchtenden als die Zukunftslosen sichtbar. Die Zukunftslosen sind paradigmatische Figuren des gegenwärtigen Neoliberalismus, der auf die zunehmende ökologische Ausweglosigkeit mit rassistischen Grenzregimen antwortet. Ihre Fluchten sind Kämpfe für ein Recht auf Zukunft.
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