Erste geschützte Grünfassade an unseren Bildhauereiateliers
An der Fassade der Bildhauereiateliers in der Kurzbauergasse wuchert seit 100 Jahren eine einzige Wilder-Wein-Pflanze die Häuserfront zu. Nun wird sie zum Naturdenkmal – und Vorbild für weitere Begrünungen.
Dass das große Gebäude mit den vielen Erkern, Vorsprüngen und außergewöhnlichen Fenstern an der Kreuzung Kurzbauergasse und Böcklinstraße etwas Besonderes ist, das wurde vor ziemlich genau 21 Jahren erkannt. Anfang August 2001 stellte die Behörde den dreiflügeligen Komplex unweit des Wiener Praters unter Denkmalschutz. Nun wird dieser Denkmalschutz quasi ausgeweitet – auf ein Charakteristikum des Gebäudes, dem eine derartige Behütung in Wien bisher noch nie zuteilwurde: dem Grün an der Fassade.
Die Wurzel des üppigen Bewuchses, der bis zum Mansardendach reicht, ist nicht so leicht zu finden. Wer genau schaut, entdeckt sie dann aber doch: In einem nahezu winzig anmutenden Pflanzgefäß, das in die Fassade integriert und gut unter Blättern versteckt ist, gedeiht ein einziger Stock Wilder Wein.
Und das wohl schon seit geraumer Zeit, wie Harald Gross von der städtischen Umweltschutzabteilung (MA 22) erzählt. "Das Gebäude wurde 1912 fertiggestellt. Es liegt nahe, dass der Stock seit damals im Bestand ist." Das soll heißen: Besagter Veitschi, wie der Wilde Wein liebevoll genannt wird, ist mehr als 100 Jahre alt.
Fassadenbegrünungspionier Zotter
Nachschlagewerken zufolge war die Fassadenbegrünung von Beginn an Teil der Entwürfe für das Gebäude, die von dem Wiener Architekten Eduard Zotter stammen. Bis heute sind dort Bildhauerateliers der Akademie der bildenden Künste untergebracht, in denen schon Berühmtheiten wie etwa Fritz Wotruba werkten. 2011 wurde der Komplex generalsaniert, in den kommenden Jahren will die Eigentümerin des Gebäudes, die Bundesimmobiliengesellschaft (BIG), die historischen Fenster im Innenhof sanieren.
Architekt Zotters Herangehensweise würde heutige Stadtplanerinnen und Stadtklimatologen gewiss entzücken. Immerhin sind bepflanzte Häuserfronten ein wichtiges Mittel, um überhitzte urbane Gebiete grüner und durch die Verdunstung von Wasser über die Blätter kühler zu machen. In der gegenwärtigen Klimakrise sind sie ein vielfach gefordertes (und von der öffentlichen Hand auch gefördertes) Gestaltungselement – insbesondere dort, wo kein Platz für Bäume ist.
Der Gebäudeschöpfer nahm mit der Begrünung also die Zukunft ein Stück vorweg. Damit schuf er eine Grundlage dafür, dass der Veitschi-Stock beim Bildhaueratelier zum Naturdenkmal erklärt wird und für die Nachwelt bewahrt bleibt.
"Voraussetzung für diesen Status ist, dass ein Objekt einen Naturschutzwert und einen kulturhistorischen Wert hat", sagt Franz Eschner, der ebenfalls bei der Umweltschutzabteilung der Stadt Wien tätig ist. Letzterer Wert ergibt sich aus der herausragenden Verquickung von Pflanze und Fassade. Ersterer unter anderem aus dem Alter, dem beeindruckenden Stamm und dem Umstand, dass sich eine derart mächtige Kletterpflanze in einem Innenstadtbezirk befindet, erklärt Eschner. Kurzum: Es geht um das Gesamtkunstwerk.
Die Vermessung des Veitschi
Ob ein potenziell schutzwürdiges Objekt überhaupt auf seine Eignung als Naturdenkmal geprüft wird, entscheidet allein die MA 22. "Anträge sind nicht möglich", sagt Experte Gross. "Aber wir nehmen natürlich Vorschläge aus der Bevölkerung entgegen."
Er und sein Kollege Eschner wollen ihren Neuzugang im zweiten Bezirk in Zukunft besser kennenlernen. Geplant sei, mittels einer Vielzahl an Fotos ein 3D-Modell des Weinstocks zu erstellen, das eine exakte Bestandsaufnahme ermöglicht. Mittels eines Laserscans ließe sich zudem berechnen, wie groß die begrünte Fläche ist und welches Gewicht die Haftfüßchen tragen, mit denen sich die Pflanze an der Mauer hält.
Eschner zufolge gibt es bereits Überlegungen, weitere Fassadenbegrünungen in Wien zu Naturdenkmälern erklären zu lassen. Konkrete Verfahren seien aber noch nicht im Gange. Für ausreichend Nachschub ist jedenfalls gesorgt: Durch den aktuellen Grünfassadenboom könnten die nächsten Naturdenkmäler gerade im Entstehen begriffen sein. (Stefanie Rachbauer, Standard 23.8.2022)