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WAS UNS ANGEHT: Clara Fureys choreographische Annäherungen an ein Fundstück von Heimrad Bäcker

Dissertantin:
Martina Gimplinger

Dissertationsbetreuer_innen:
Ruth Sonderegger
Bojana Kunst

Projektstart:
19.09.2016

Doktoratsstudium:
Doktoratsstudium der Philosophie

Dissertationsprojekt
von Martina Gimplinger, Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften
Projektstart: 19.09.2016

Abstract

Das vorliegende Projekt untersucht die zeitgenössische Solo-Tanzperformance When Even The (2018) und stellt die Frage in den Mittelpunkt wie eine gegenwärtige, gefühlte Erfahrung mit einer einschneidenden Gewaltgeschichte aussehen könnte. Wie wollen wir, als in der postnationalsozialistischen Täter*innengesellschaft Aufgewachsene, uns an die irreparablen Verluste des Holocaust erinnern? Welches Verhältnis können wir zu den Opfern einnehmen?
Unter dem Titel When Even The performte die kanadische Tänzerin und Choreographin Clara Furey im Museum Moderner Kunst Wien neben einem abgenutzten, metallenen Gegenstand. Der österreichische Schriftsteller, Verleger und Fotograf Heimrad Bäcker hatte diesen zusammen mit anderen Gegenständen auf den Geländen der ehemaligen, oberösterreichischen Konzentrationslager Mauthausen und Gusen aufgesammelt. In When Even The kommt es zu einer besonderen Konstellation zwischen Fureys den Opfern gewidmeter Choreographie, Bäckers durch seine frühe Begeisterung für den „Führer“ belastete Biographie und dessen lebenslanger, kritischer Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, die in das bekannte, literarische Hauptwerk der „nachschriften“ mündete. Diese basieren auf einer besonderen Praxis des Zitierens von überliefertem, sprachlichem Material, das vorwiegend dem Handlungsbereich der NS-Täter*innen zuzuordnen ist. Das vorliegende Projekt macht die wissenschaftlich kaum beachteten Fundstücke, insbesondere das Metallobjekt auf der Bühne, als Teil der Gesamtlogik des Zitierens lesbar.
In ihrer sensiblen Choreographie setzt Furey Modi des affektiven Nachspürens ein, um historischen Subjekten, die Opfer genozidaler Gewalt geworden sind, retrospektiv anders zu begegnen. Ihre behutsam fabulierten, gegen-geschichtlichen Bezugnahmen verkörpern eine ethische Notwendigkeit, im Kontext absoluter Gewalt Formen positiver Sozietät zu imaginieren. Damit geht Furey über normative historische Repräsentationen, die oftmals das Vokabular der Täter*innen adaptieren, und normative Erinnerungspraktiken hinaus. Sie stellt provisorische Bezüge her, die weder auf einer neutralen, historiographischen Instanz noch auf sachlichen oder spektakulären Darstellungen von Gewalt basieren, sondern von der intimen Sinnlichkeit ihres eigenen Körpers sowie alltäglichen Körperpraktiken wie der Atmung ausgehen. Im Sinne eines Erinnerns als ethische Notwendigkeit des hergestellten Bezugs, thematisiere ich When Even The als verkörperten Modus des Eingedenkens (Walter Benjamin) und der Critical Fabulation (Saidiya Hartman).
Die vorliegende Untersuchung reformuliert erinnerungspolitische Fragestellungen als komplexe und radikal sinnliche, intim-politische, ethisch-historische Erfahrungen der Bezugnahme innerhalb der postnationalsozialistischen Täter*innengesellschaft Österreichs.

Kurzbiographie

Martina Gimplinger ist Tanz- und Theaterwissenschaftlerin mit einem Fokus auf das 21. Jahrhundert. In ihrer Forschung setzt sie sich mit Theorien nichtlinearer Zeitlichkeit und der Verknüpfung von Ästhetik und Erinnerung im Kontext des Nachlebens genozidaler Gewaltgeschichten auseinander. Für ihr Dissertationsprojekt WAS UNS ANGEHT erhielt sie ein Stipendium der Österreichischen Akademie der Wissenschaften – ÖAW (2018-21) und ein Fertigstellungsstipendium der Literar Mechana. Sie hält Vorträge, moderiert Künstler_innengespräche und arbeitet mit freischaffenden Choreograph_innen.