„Nicht fragen wer wir sind, sondern wie wir tun“ – Kollektivität denken ausgehend von Les Groupes Medvedkine, Scuola senza fine und Precarias a la deriva
ÖAW | DOC
geleitet von Jul Tirler, Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften
Projektlaufzeit: 1.7.2019 – 30.6.2022
Das Dissertationsprojekt untersucht Erscheinungsformen und Möglichkeitsbedingungen von Kollektivität ausgehend von den filmisch-politischen Praxen der drei Zusammenschlüsse Les Groupes Medvedkine (1967-1972), Scuola senza fine (1979-1983) und Precarias a la deriva (frühe 2000er Jahre). 1967 treffen sich Filmemacher_innen aus Paris und Fabrikarbeiter_innen aus Besançon und gründen Les Groupes Medvedkine. Die Medwedkin Gruppen produzieren bis 1972 kollektiv Filme, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Fabrikarbeiter_innen sowie deren politische und kulturelle Forderungen zum Thema machen. Zwischen 1979 und 1983 realisiert Adriana Monti in Mailand den Film Scuola senza fine (Schule ohne Ende) in einem kollaborativen Prozess mit nicht-erwerbstätigen Frauen, die 1976/77 in von italienischen Gewerkschaften durchgesetzten, sogenannten 150-Stunden-Kursen ihren Sekundärschulabschluss machen und nach dem Ende des Kursprogramms die Fortbildungskurse selbstorganisiert weiterführen. Ab 2002 organisieren Precarias a la deriva („Prekäre Umherschweifende”) wöchentliche derivas („Streifzüge“) in Madrid, bei der eine wechselnde Gruppe von Frauen die Orte aufsucht, die für ihre prekären Arbeits- und Lebenssituationen zentral sind. 2003 wird das Video A la deriva por los circuitos de la precariedad femenina (Streifzüge durch die Kreisläufe feminisierter prekärer Arbeit) veröffentlicht, das ausgehend von den selbstorganisierten derivas feminisierte prekäre Arbeit in Spanien thematisiert.
In der Dissertation werden die Möglichkeitsbedingungen und Erscheinungsformen von Kollektivität ausgehend von diesen drei Zusammenschlüssen kritisch befragt. Anhand von drei Beispielen künstlerisch-politischer Zusammenschlüsse, die durch ihren gesellschaftspolitischen Anspruch verbunden sind, wird untersucht, auf welche kollektiven Handlungsformen und auf welche Konzepte kollektiver Identitäten diese zurückgreifen und welche Formen von Kollektivität in diesen Prozessen entstehen.
Die theoretische Basis dafür bilden Theorien zu kollektiven Identitäten und Handlungsformen im Anschluss an intersektional-feministische Kritik an Kollektivitätsvorstellungen ebenso wie die Ansätze aus den Studien zur visuellen Kultur/Kulturwissenschaften, die auf macht- und herrschaftskritischen Ansätzen in feministischen, post/dekolonialen und Queer Theorien basieren. Die Arbeit folgt einem Konzept von Transdisziplinarität, das nicht vom Material, sondern von den Fragestellungen ausgeht. Dazu werden Methoden aus Kulturwissenschaften, Filmwissenschaften und der qualitativen Sozialforschung kombiniert. Ausgehend von einer kritischen Lektüre der von den Zusammenschlüssen produzierten Filme und Texte werden systematische Filmanalysen durchgeführt und leitfadengestützte Expert_innen-Interviews mit ehemaligen Beteiligten der Zusammenschlüsse geführt.
Die Dissertation ist ein Beitrag zum kulturwissenschaftlichen Diskurs zu Kollektivität aus subjektkritischer Perspektive, indem sie Fragen nach Repräsentation, Positionierung, Privilegien und Machtverhältnissen in kollektiven filmischen Praxen thematisiert.
Mag.* Jul Tirler, M.A., Kulturwissenschaftler*in und Autor*in. Studium der Kunstgeschichte, Romanistik sowie Kunst- und Kulturwissenschaften in Innsbruck, Wien und Siena. Forscht theoretisch und praktisch zu prekärer Arbeit, Arbeitskämpfen, intersektionalen Feminismen, Repräsentationskritik und kollektiven Praxen zwischen Wien, Paris und Madrid. Lebt und arbeitet in Wien. Kontakt: j.tirler@akbild.ac.at