Nicht fragen wer wir sind, sondern wie wir tun
Repräsentationskritische Perspektiven auf Kollektivität und emanzipatorische Bewegtbildproduktion: Scuola senza fine und A la deriva por los circuitos de la precariedad femenina
Jul Tirler
Dissertationsstipendiat_in an der Akademie der bildenden Künste Wien | Abschluss-Stipendium des Doktoratszentrums 2022
Das Dissertationsprojekt untersucht Erscheinungsformen und Möglichkeitsbedingungen feministischer Kollektivität und deren Repräsentation ausgehend von zwei Filmen, die in unterschiedlichen historisch-politischen Kontexten kollektiv produziert wurden: Scuola senza fine. Adriana Monti. I 1983 und A la deriva por los circuitos de la precariedad femenina. Precarias a la deriva. ESP 2003. Zwischen 1979 und 1983 realisiert Adriana Monti in Mailand den Film Scuola senza fine (Schule ohne Ende) in einem kollaborativen Prozess mit nicht-erwerbstätigen Frauen, die 1976/77 in von italienischen Gewerkschaften durchgesetzten, sogenannten 150-Stunden-Kursen ihren Sekundärschulabschluss machen und nach dem Ende des Kursprogramms die Fortbildungskurse selbstorganisiert weiterführen. Der Film thematisiert Subjektivierungsweisen an den Schnittstellen gesellschaftlicher Machtverhältnisse in Bezug auf Geschlecht, Alter, Lokalität und Klassenposition, indem Themen wie reproduktive Arbeit, Zugang zu (formalisierter) Bildung und Kulturproduktion kritisch verhandelt werden. Ab 2002 organisieren Precarias a la deriva (“Prekäre Umherschweifende”) wöchentliche derivas („Streifzüge“) in Madrid, bei der eine wechselnde Gruppe von Frauen die Orte aufsucht, die für ihre prekären Arbeits- und Lebenssituationen zentral sind. 2003 wird das Video A la deriva por los circuitos de la precariedad femenina (Streifzüge durch die Kreisläufe feminisierter prekärer Arbeit) veröffentlicht, das ausgehend von den selbstorganisierten derivas feminisierte prekäre Arbeit in Spanien thematisiert. Beide Beispiele verbindet, dass sie Bewegtbild als kollektive emanzipatorische politische Praxis in Kämpfen um die Ordnung der Arbeit (Henkes et al. 2019) einsetzen.
Ich untersuche die Möglichkeitsbedingungen (Kontext), die Entstehung (Geschichte der Zusammenschlüsse), das Wirken (Praxen) und die Form der Kollektivität, die Scuola senza fine und Precarias a la deriva geschaffen haben und bringe die gewonnenen Erkenntnisse in Dialog mit Entwürfen emanzipatorischer und transformativer Kollektivität, wie sie in intersektional- und queer_feministischer Kollektivitätskritik gedacht werden. Methodologisch basiert mein Ansatz auf Zugängen der Repräsentationskritik, die die Produktion und Rezeption von Bildern machtkritisch hinterfragt und von der Situiertheit von Wissen ausgeht. Die Dissertation ist verortet an den Schnittstellen zwischen Gender Studies und Studien zur visuellen Kultur/Kulturwissenschaften, die auf macht- und herrschaftskritische Ansätze zurückgreifen.
Schlagworte: Kollektivität, kollektive Handlungsfähigkeit, kollektive Bewegtbildproduktion, Politiken kollektiver Identitäten, feministische Theorien und Praxen, Intersektionalität, queer_feministische Kritik, Repräsentationskritik, Repräsentationspolitik, Scuola senza fine, A la deriva por los circuitos de la precariedad femenina
Kurzbio
Jul Tirler arbeitet als Theoretiker*in, freier Lektor, Moderatorin und Autor*in, meistens in Wien. Interventionen, Vorträge und Publikationen an den Schnittstellen von Studien visueller Kultur und Gender Studies mit Fokus auf Repräsentationspolitiken und Repräsentationskritik, Machtkritik, Kollektivitätstheorien, feministische Theorien und Praxen sowie kollektive Filmproduktion und Prekaritätstheorien.
Publikationen
Tirler, J. (2022): Collective Image Production as an Emancipatory Feminist Strategy: The Examples of Scuola senza fine and Precarias a la deriva, in: You'll never work alone: Collective Infrastructures in Moving Images, Wien: Schlebrügge.
Tirler, J. (2019): Kollektive Filmproduktion als Strategie in Arbeitskämpfen: Les Groupes Medvedkine, Scuola senza fine und Precarias a la deriva, in: Janina Henkes / Maximilian Hugendubel / Christina Meyn / Christofer Schmidt (Hrsg.): Ordnung(en) der Arbeit. Münster: Westfälisches Dampfboot, 265–280.
Tirler, J. (2018): „Precarias a la deriva“. In: Krisis. Journal for Contemporary Philosophy, Issue 2, 12–13.